KISS Interview: Selbsthilfegruppe Ehemalige Heimkinder

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2022

„Sie haben im Heim Seelenschrott aus uns gemacht“
Ehemaliges Heimkind Günter Klefenz drehte beeindruckenden Film über die Zeit im Kalmenhof und die Folgen

Günter Klefenz ist heute berentet und lebt in Kassel. In den 50igern erlebte er sieben Jahre lang als Heimkind im Kalmenhof in Idstein eine demütigende und unmenschliche Zeit. Darüber hat er einen beeindruckenden Film gedreht, der im Rahmen der digitalen Hessischen Selbsthilfetage gezeigt wurde. Daran schließt sich ein Gespräch mit der KISS-Leiterin Carola Jantzen an. Die folgenden Seiten fassen den Film sowie Auszüge aus dem Gespräch zusammen. In voller Länge ist beides auf der Seite www.selbsthilfe-hessen.de zu sehen.

Als Waisenkind kam Günter Klefenz im Alter von sechs Jahren in den Kalmenhof. Im Film kehrt er als erwachsener Mensch gemeinsam mit einer weiteren Betroffenen an diesen Ort zurück. So steht Günter Klefenz mit Monika N. zu Beginn des Films vor dem Kalmenhof in Idstein. „Tja, Moni, hier haben wir unsere Menschenwürde abgeben müssen.“ Beide sind ehemalige Heimkinder und haben hier unter unmenschlichen Erziehungsmethoden gelitten, die sich bis heute auf ihr Leben auswirken.

Gemeinsam gehen Günter Klefenz und Monika N. im Film durch den Kalmenhof und erzählen von den Demütigungen, die hier an der Tagesordnung waren. Günter Klefenz erinnert sich, dass sie mit Kuhglocken herumlaufen und Muh machen mussten, wenn sie abgehauen waren und gefasst wurden, um die anderen Heimkinder einzuschüchtern. Machtlos und hilflos denen ausgeliefert, die im Nationalsozialismus zu Erziehern geworden waren, mussten sie körperliche Züchtigungen und stundenlange harte Arbeiten mit Putzen und Waschen ertragen.

Der Film zeigt auch Menschen, die den Weg aus der „Seelenschrottfabrik“ in ein eigenes Leben nicht geschafft haben, weil ihre seelischen Schäden zu groß waren. Erst spät wurden die Zustände in den Heimen öffentlich. In einem Gespräch versuchen die beiden ehemaligen Heimkinder mit der Sprecherin des Trägers LWV (Landeswohlfahrtsverband), das Geschehene anzusprechen. Erst 2006 erkannte der LWV das Leid der Betroffenen an und entschuldigte sich.

Monika N. und Günter Klefenz sprechen auch mit Jugendlichen, die heute in einer Jugendwohngruppe leben, der modernen Form der Heimerziehung. Beide sind beeindruckt von den menschlichen Werten, die die Jugendlichen selbst aufgeschrieben und an die Wand gehängt haben. „Das hatten wir im Kalmenhof nicht“, stellen beide mit großem Bedauern fest. Die Jugendlichen können kaum glauben, wieviel besser sie es heutzutage haben.

Der Film verdeutlicht: „Sie haben aus uns Seelenschrott gemacht und mit diesem Defekt müssen wir heute leben.“ Was der Film auch zeigt: Es waren Tiere, vor allem Hunde, die Günter Klefenz dabei halfen, ein eigenes Leben aufzubauen.

Als Erwachsener mit Folgeschäden leben
Gespräch zu Beweggründen, Wünschen und der Botschaft des Films

KISS: Der Kalmenhof war ja ein ganz besonderes Heim und hatte einen speziellen Ruf.
Günter Klefenz: Dort waren verhaltensauffällige und auch schwerbehinderte Kinder untergebracht, überwiegend schwer erziehbare Heimkinder. Wenn wir auf einen Spaziergang gingen hieß es: Die aus der Idiotenheilanstalt. Das sind die Begriffe, die im Kopf hängengeblieben sind. Der Faschismus hat 1945 hinter den Mauern nicht aufgehört, das System hat dort noch weitergelebt. Wie waren Erziehern ausgeliefert, die vom Gedankengut der Nazis geprägt waren und die sich an uns ausleben konnten, wie sie wollten.

KISS: Sie sind bewusst mit dem Filmteam dorthin zurückgegangen.
Günter Klefenz: Es war für mich wichtig, die Erlebnisse aus meiner Perspektive aufzuarbeiten und darüber zu berichten. Mir geht es um die Authentizität eines betroffenen Kindes. Ich wollte erzählen, warum ich so bin, wie ich bin und wie ich als erwachsener Mensch mit den Folgeschäden leben muss. Das waren meine Beweggründe.

KISS: Was hat ihnen die Kraft dazu gegeben?
Günter Klefenz: Ich habe erkannt, wie man mich brechen und kaputt machen wollte. Den Gefallen habe ich ihnen nicht getan. Also stelle ich mich der Öffentlichkeit, um den Menschen klar zu machen, was hier an Verbrechen begangen worden ist mit der Gewalt an Kindern.

KISS: Reicht ihnen die Erkenntnis, dass Verbrechen begangen worden sind oder geht es auch um Wiedergutmachung oder Rache?
Günter Klefenz: Wiedergutmachung klingt wie, es lässt sich etwas wieder gut machen. Stellen Sie sich eine Vase vor, die herunterfällt und zerbricht und wieder zusammengeklebt wird. Die Narben zeigen die Verletzlichkeit, mit der wir das Leben tragen müssen. Man hat vielen Heimkindern, die damals ihre Geschichte offen gelegt haben, Salz in die Wunde gestreut und sie im Regen stehen lassen. Der Umgang mit den Heimkindern damals, den fand ich nicht korrekt. Da ist einiges schiefgelaufen, was die Aufarbeitung angeht. Vor allem vom Staat.

KISS: Was ist Ihnen wichtig an dem Film? Welche Botschaft soll hängen bleiben?
Günter Klefenz: Mein Rechtsempfinden war so ausgeprägt, dass ich Dinge immer wieder hinterfragt habe. Dafür wurde ich zusammengeschlagen oder in den Keller gesteckt. Mit solchen Dingen haben sie versucht, mich kleinzukriegen. Den Gefallen habe ich ihnen nicht getan. Wenn ich heute zum Beispiel spazieren gehe und Alkoholiker oder Obdachlose sehe, frage ich mich aufgrund meiner eigenen Biografie: Auch ich könnte dieser Mensch sein, wenn mir das Schicksal nicht die Stärke gegeben hätte, die ich habe. Man darf solche Menschen nicht gleich verurteilen.

KISS: Was würden Sie sich wünschen?
Günter Klefenz: Dass man die Geschehnisse öffentlich macht. Für mich war ebenso wichtig, jungen Menschen, die Familie haben, bewusst zu machen, was ein behütetes Elternhaus bedeutet, was ich ja nicht hatte. Macht euch deutlich: Das ist nicht selbstverständlich, darum schätzt es wert, behütet zu sein – auch wenn mal Stress ist. Für uns Heimkinder wäre ein solches Elternhaus ein Paradies gewesen.

KISS: Sie haben die Selbsthilfegruppe der ehemaligen Heimkinder mitgegründet. War die Gruppe hilfreich?
Günter Klefenz: Wichtig war, dass wir uns austauschen konnten, ohne dass wir uns schämen mussten, weil jeder wusste, was die Gründe für uns sind. So konnten wir uns gegenseitig etwas auffangen. Manche haben sich am Anfang schwergetan, doch das hat sich gelockert und sie haben über sich geredet. Sie haben gemerkt, dass sie mit ihrer Geschichte nicht alleine sind. Das ist sehr wichtig. 

KISS: Was wünschen Sie sich für Gegenwart und Zukunft?
Günter Klefenz: Ich lebe heute noch immer mit den Folgeschäden. Tiere wie meine Hündin Tammy haben mich aufgefangen, wenn ich einen Tiefpunkt hatte. Außerdem möchte ich kommunizieren, dass nicht noch einmal so etwas geschieht, dass ein solcher Zeitgeist nicht noch einmal zurückkommt. Damit sollte man sich auseinandersetzen.

Mehr zur Gruppe finden Sie hier:
 Selbsthilfegruppe für ehemalige Heimkinder (Öffnet in einem neuen Tab)

HEIMKINDER DER 50ER BIS 70ER JAHRE I GÜNTER KLEFENZ