Eingemeindungen der Stadt Kassel

Cassel.
Diß ist die Hauptstat deß Niedern Fürstenthumbs Hessen /
vnd ein Fürstliche Landgräffliche Residentz /
vnd Landes Regierung /
der höchste Schmuck vnd Zierde deß Landes /
so wol der vornehmen Kauffmanschafft /
als der schönen Fürstlichen Palästen /
vnd sonsten Burgerlichen Wohnungen halber.
So steht es in der Topographia Hassiae von 1655.

Dass die Stadt Kassel viel älter ist, ist sicher vielen bekannt. Den entscheidenden Wendepunkt, mal abgesehen von den Bemühungen unter Landgraf Karl, erfuhr Kassel im Jahre 1866 mit der Eingliederung Kurhessens in das Königreich Preußen. Die Wirtschaftskraft stieg sprunghaft an, namentlich festzumachen etwa an Henschel & Sohn, Credé oder Salzmann. Kassel war nun auch ein Wirtschaftsstandort mit teilweise Weltruf (Optik/ Feinmechanik).

Erkennbar wird dies am „neuen“ Gesicht der Stadt, die nun nicht mehr nur ausschließlich Residenz- und Beamtenstadt war, sondern gleichzeitig auch bedeutender Industriestandort: Im Norden und Osten befanden sich hauptsächlich die Industriebauten, zu erkennen an den hohen Fabrikschornsteinen. Im Westen fanden sich dagegen großzügige Wohnstraßen, als Initiator, denn diese Bauprojekte gingen weniger von der städtischen Bauverwaltung aus, ist hier vor allem Sigmund Aschrott zu nennen.

Die Einwohnerzahl Kassels verdoppelte sich von 40.000 im Jahr 1866 auf fast 82.000 1895. Die Stadt dehnte sich aus und rückte immer mehr an die umliegenden Dörfer heran. Die Beschaffung von Wohnraum war das vorherrschende Problem und u.a. ursächlich für den nächsten Schritt städtischer Entwicklung: Die Eingemeindungen!

Allein die Bedeutung des Wortes „Eingemeindungen“ weckt nicht unbedingt den Eindruck, dass sich hier zwei gleichberechtigte Partner zusammengeschlossen haben, um für ihre Probleme und Aufgaben gemeinsam eine Lösung zu finden. Dies trifft vor allem auf die Eingemeindungen im Jahr 1906 und erst recht auf die im Jahr 1936 zu.

Eine Ausnahme und damit in der Darstellung interessant ist die Eingemeindung Wehlheidens im Jahr 1889. Aus dem Aktenmaterial (hier u.a. aus dem Stadtarchiv Kassel, Bestand A 1.10 Hauptamt) geht hervor, dass die Bestrebungen und die Erkenntnis der Notwendigkeit, eine Eingemeindung zu vollziehen, noch von beiden Partnern ausgingen und entsprechende Verhandlungen fast unter Gleichberechtigten geführt worden sind. Die Betonung liegt auf „fast“, denn die Stadt Kassel hatte bei den Verhandlungen deutlich das Übergewicht und konnte entsprechende Forderungen stellen. Der Grund liegt auf der Hand: Wehlheiden hatte in den letzten Jahren seine Infrastruktur vernachlässigt und hatte 800.000 Mark an Schulden angehäuft. Zur Abhilfe hätte man die Realsteuern erhöhen müssen was wiederum dazu geführt hätte, dass die Attraktivität zum Zuzug wohlhabender Bürger aus Kassel erheblich vermindert worden wäre.

Als am 1.4.1899 der Vertrag in Kraft trat, übernahm die Stadt Kassel mit dem Vermögen auch die Schulden der Gemeinde, desgleichen das Wasserwerk und verpflichtetet sich zum Ausbau der Kanalisation und des Straßennetzes. Der Gemeindebezirk Wehlheiden erhielt einen Anspruch auf einige Stadtverordnete und einen unbesoldeten Stadtrat, allerdings nur für die nächsten zwei Wahlperioden.

Bei der Behandlung der Eingemeindungen von Bettenhausen, Kirchditmold, Rothenditmold und Wahlershausen im Jahr 1906 wird dagegen deutlich, wie sehr die Ortsgemeinden unter Druck standen, ihre gewachsenen Probleme, vor allem die wasserwirtschaftliche Versorgung, die eines der maßgeblichsten Argumente darstellte, zu lösen. Die Ausgangslage in den vier beteiligten Ortsgemeinden waren jedoch unterschiedlich: So war etwa Wahlershausen mit über 3700 Einwohnern vergleichsweise reich, wies 1904 einen Vermögensüberschuss von 2,4 Mio. Mark auf und konnte es sich leisten, die jährliche Kreissteuer von 15.000 Mark zu zahlen. In Kirchditmold war die Situation eine ähnliche. Rothenditmold und Bettenhausen waren hingegen industriell geprägt (Henschel, Wegmann, Casseler Jutespinnerei) und hier überstiegen die Verbindlichkeiten den geschätzten Wert des vorhandenen Grundeinkommens. Die Verhandlungen zogen sich auch hier hin, Pro und Kontra hielten sich ungefähr die Waage, doch wurde deutlich, dass man in der Eingemeindung die einzige Möglichkeit sah, „die Wohlfahrt der Orte zu fördern.“ Auch hier spielte vor allem die Wasserversorgung eine Rolle. Die Hygiene bzw. die Verbesserung derselben spielte dabei eine große Rolle: Durch verunreinigtes Wasser hatte es in Wahlershausen einen Typhusfall gegeben.

Interessant dabei ist, dass auf einer Bürgerversammlung des Kasseler Bürgervereins im Gasthof „Stadt Stockholm“ die Stimmung gegen eine Eingemeindung war. Die für Wahlershausen aufzuwendenden Kosten würden in Kassel dringend notwendige Investitionen entweder ganz blockieren oder zumindest verzögern. Man dachte hier vor allem an die Fuldakanalisierung, den Brückenbau, die Durchbrüche durch die Altstadt, eine Ausdehnung des Gasnetzes etc.

Widerstand gab es auch vom Landkreis, dessen Bürgermeister den Regierungspräsidenten auf die Nachteile hinwiesen, welche die Abtrennung von vier durchaus finanzkräftigen Gemeinden für den Kreis mit sich brächten. Eine entsprechende Petition an das preußische Herrenhaus scheiterte, sodass alles auf einen Kompromiss hinauslief. So einigte man sich beiderseits auf die Zahlung von 40000 Mark (seitens Kassel für den Landkreis) und am 1.4.1906 trat dann das „Gesetz betreffend Erweiterung des Stadtkreises Cassel“ in Kraft.

Text:  Dr. Stephan Schwenke