Wer gilt als arm?
14 Millionen Menschen sind in Deutschland laut einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahr 2021 von Armut betroffen. Auch in Kassel hat die Armutsquote mit rund 18 Prozent einen hohen Stand erreicht. Um den betroffenen Menschen helfen zu können, hat die Stadt Kassel den Pakt gegen Armut gegründet.
Wer als Single netto monatlich weniger als 1074 Euro oder als Paar mit zwei kleinen Kindern weniger als 2255 Euro zur Verfügung hat, gilt in der Bundesrepublik als arm (Stand 2019). In Kassel beziehen über 22.000 Menschen Leistungen nach dem SGB II, nicht eingerechnet jene Menschen, die auf Grundsicherung oder Wohngeld angewiesen sind. Steigende Lebenshaltungs- und Energiekosten beeinträchtigen die Lebenssituation vieler Menschen.
Vernetzung auf kommunaler Ebene
Um selbstbestimmt leben zu können, brauchen Menschen eine eigene materielle Basis. Die Armutspolitik erschöpft sich aber nicht in den notwendigen Geldleistungen. Politik gegen Armut ist auch Bildungs-, Gesundheits-, Infrastruktur- und Arbeitsmarktpolitik. Die beste Prävention gegen Armut sind Bildung und Arbeit. Vom Ende gedacht, ist eine gute Gesellschaft daran zu erkennen, wie sie mit ihren schwächeren Gruppen umgeht und wie sie in der Lage ist, deren Lebenschancen zu mehren. Eine kluge Lebenschancenpolitik ist gut für die von Armut Betroffenen und sie ist gut für die Gesellschaft als Ganzes, deren Zusammenhalt so besser gefördert und gesichert werden kann. Die Stadt und die Zivilgesellschaft engagieren sich seit langer Zeit in vielfältiger Weise gegen Armut. Nun wird der Kasseler Pakt gegen Armut gegründet, um bestehende Ressourcen und Aktivitäten auf kommunaler Ebene zu identifizieren, diese miteinander zu vernetzen, wirkungsvoller einzusetzen und um neue lokale Ansätze zur Armutsbekämpfung und Armutsprävention zu entwickeln und durchzuführen.
Bleiben Sie auf dem Laufenden
Welttag der sozialen Gerechtigkeit am 20. Februar
Es ist nicht gerecht: Viele Menschen auf der Welt müssen tagtäglich Armut, Hunger und Benachteiligung erleiden. Deshalb findet seit 2008 jedes Jahr am 20. Februar der Welttag der sozialen Gerechtigkeit statt. Es ist ein Aktionstag, mit dem die Vereinten Nationen auf Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft aufmerksam machen. Der Tag soll vor allem auch an das Leitbild der sozialen Gerechtigkeit in Gemeinschaften erinnern. Der Kasseler Pakt gegen Armut möchte an dieser Stelle ein Zeichen setzen: Die Mitglieder des Paktrats beschreiben in wenigen Worten die Ziele ihrer Arbeit für mehr soziale Gerechtigkeit.
Der Auftakt zum Pakt gegen Armut
Das Interesse ist groß: Mehr als 150 Teilnehmende zählte die Auftaktveranstaltung des Kasseler Pakts gegen Armut am Freitag, 16. September, im Rathaus. Viele Vertreterinnen und Vertreter verschiedener sozialer Arbeitsbereiche, aus Religionsgemeinschaften sowie aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft bekundeten schon vor Ort ihren Willen, im Pakt aktiv mitzuarbeiten.
„Ich bin überwältigt von der großen Resonanz für dieses Vorhaben! Mit dem Kasseler Pakt gegen Armut wollen wir gemeinsam die Lebenslagen und die Lebenschancen der von Armut betroffenen Menschen in unserer Stadt verbessern und ihre Teilhabechancen spürbar stärken“, so Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Ilona Friedrich während der Auftaktveranstaltung. Friedrich wies darauf hin, dass sich die Situation von Armut betroffener Menschen infolge der Pandemie und des Ukraine-Kriegs weiter verschärft habe. . „Auch diesen neuen Herausforderungen muss sich die Stadt stellen. Eine gute Gesellschaft ist daran zu erkennen, wie sie mit ihren schwächeren Gruppen umgeht, der Pakt wird hier ein maßgeblicher Akteur sein“, so Friedrich. „An den Regelsätzen können wir zwar als Kommune nichts ändern, aber wir können sehr wohl mit kommunaler Schwerpunktsetzung die gesellschaftliche Teilhabe stärken und die Lebenschancen von Menschen in unserer Stadt verbessern. In der Armutspräventionspolitik fangen wir nicht bei Null an. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen aus den letzten Jahren, die bundesweit ihresgleichen suchen.“ So wurde beispielweise 2018 die „Mittendrin!Teilhabecard“ und in der Folge das „Mittendrinticket“ für Menschen, die Transferleistungen erhalten, eingeführt.
Soziologin Allmendinger lobt Paktgründung
Bei der Auftaktveranstaltung referierte Jutta Allmendinger zur Armut in Deutschland. Die Soziologin ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität Berlin. In ihrem Vortrag beleuchtete sie die wesentliche Rolle von Bildung bei der Armutsprävention: „Wenn nach neuesten Erhebungen circa 30 Prozent aller Viertklässler funktionale Analphabeten sind: Wie passt das mit dem konstatierten Fachkräftemangel zusammen?“ Allmendinger stellte fest, dass seit Jahren die Ursachen von Armut ebenso bekannt seien wie effiziente Maßnahmen zur Armutsbekämpfung: „Es gibt kein Wissensdefizit, sondern ein Handlungsdefizit!“ Sie begrüßte ausdrücklich die Kasseler Initiative einer Paktgründung.
Erste Vorstudie zur Situation in Kassel vorgestellt
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel, der mit seinem Team den Pakt zukünftig wissenschaftlich begleiten wird, stellte die Ergebnisse einer ersten Vorstudie zur Armutspolitik in Kassel vor. „Armutsprävention und Armutsbekämpfung sind für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit nicht zuletzt auch für eine funktionierende Demokratie unabdingbar“, mahnte Schroeder an.
Was ist Armut?
In klassischen Ansätzen wird Armut als relative Armut mit dem Grad an Unterschreitung durchschnittlicher Lebens- und vor allem Einkommensstandards beschrieben: In der Europäischen Union gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens im jeweiligen Mitgliedsstaat erzielt. Doch dieser Ansatz allein greift zu kurz. Armut hat viele Gesichter.
Der Mangel an materiellen Ressourcen ist gekoppelt mit einer massiven Einschränkung von Lebenschancen. Armut hat eine soziale, kulturelle und auch psychische Dimension. Sie wirkt sich negativ auf die Einstellungen und Haltungen zum eigenen Leben aus. Wenn man permanent auf Möglichkeiten verzichten muss, die für andere selbstverständlich sind, dann ist das sehr häufig mit Hoffnungslosigkeit, Scham, Resignation und Rückzug verbunden. Die Gefahr der Vereinsamung von Armut betroffener Menschen ist hoch. Die geringeren Möglichkeiten zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben gehen einher mit schlechteren Wohnsituationen und gesundheitlichen Belastungen. Stigmatisierung, Ausgrenzung und die Unterstellung der eigenen „Schuld“ an der eigenen Lebenssituation forcieren solche Entwicklungen.
Nicht zuletzt: Armut betrifft auch Menschen, die nicht arm sind. Auch die Angst vor Armut und dem damit einhergehenden sozialen Statusverlust belastet und kann krankmachen. Der Nobelpreisträger Amartya Sen konstatiert: Armut ist ein Ausdruck eines Mangels an Verwirklichungschancen. Diese Definition führt direkt zu einer möglichen Leitidee des Pakts:
Der Kasseler Pakt gegen Armut setzt sich zum Ziel, die Lebenslagen von Armut betroffener Menschen in unserer Stadt zu verbessern und ihre Teilhabechancen spürbar zu stärken.
Grundlagen für den Pakt gegen Armut
Die materiellen Standards, also das Niveau der Transferzahlungen, lassen sich durch eine Kommune, zumindest kurz- und mittelfristig, nicht beeinflussen. Gleichwohl kann die Kommune durch ihre organisatorischen, infrastrukturellen und kommunikativen Aktivitäten sowie durch adäquate Angebote und Instrumente einen Beitrag leisten, um die Lebenslagen armer und von Armut betroffener Menschen spürbar zu verbessern. Ausgangspunkt des Pakts ist eine präzise Analyse der Lage. Dazu gehört aber auch, die Bekämpfung der Armut nicht nur als reaktive Politik zu verstehen und zu betreiben, sondern es muss auch dafür sensibilisiert werden, wodurch zukünftig Armut entstehen und wie dies verhindert werden kann. Auf dieser Basis wird das gemeinsame Vorgehen der unterschiedlichen Akteure ausgerichtet werden.
Im Kern geht es auch um folgende grundlegende Fragen:
- Was muss getan werden, um die bestehende Förderlandschaft stärker sozialräumlich, kooperativ und interdisziplinär zu vernetzen?
- Wie kann eine wirkungsvolle Steuerung erreicht werden, welche die bestehenden Aktivitäten effektiver aufeinander bezieht und deren Ergebnisse dadurch verbessert?
- Wer kann einen Beitrag leisten, um präventive und reaktive Antworten auf armutsstrukturierende Lebenslagen zu geben?
Schritt 1: Analyse der Armut im städtischen Raum
Eine wesentliche Grundlage für die Arbeit des Pakts bildet zunächst eine datengestützte Analyse der Armutslage in der Stadtgesellschaft.
Die soziale Lage der aktuell oder perspektivisch von Armut Betroffenen ist facettenreich. Die einen können sich aus eigener Kraft durch gute Arbeits- und passende Förderangebote selbstständig entwickeln. Andere brauchen die konkrete und direkte Unterstützung, um über die Runden zu kommen. Vor allem auch durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine ist ein zusätzlicher Handlungsdruck entstanden, der besondere Anstrengungen verlangt.
Schritt 2: Analyse bereits vorhandener Ansätze und Netzwerke
Es gibt in Kassel durch EU-, bundes-, landes- und kommunalspezifische Förderinstrumente viele innovative Projekte in den Bereichen Arbeit, Soziales, Bildung und Gesundheit. Diese werden durch die Kommune, aber auch durch verschiedene andere Träger und Akteure gesteuert.
Die bereits vorhandenen Förderpotenziale und Netzwerke sollen identifiziert und sichtbar gemacht werden.
Die Struktur des Pakts
Ein Wort vorweg: In Kassel engagiert sich eine große Anzahl von Institutionen und Trägern, Vereinen und Ehrenamtlichen gegen Armut. Und dies durchaus erfolgreich. Es gibt zivilgesellschaftliche und städtische Arbeitsgruppen, Arbeitskreise, Bündnisse, Netzwerke, Runde Tische und Räte, Experten- und Entscheidungsgremien sowie weitere Austauschformate. Das Sozialamt ist beispielsweise mit eigenen Vertreterinnen und Vertretern in über 100 Formaten vertreten. Auch das Jugendamt, um ein weiteres Beispiel zu benennen, ist in einem sehr hohen Maß mit vielen verschiedenen Formaten in die Stadtgesellschaft aktiv eingebunden. Allen zivilgesellschaftlichen und städtischen Akteurinnen und Akteuren ist bewusst, dass zur Prävention von Armut und zur Förderung sozialer Teilhabe spezifische Lebenslagen von Kindern, Alleinerziehenden, Langzeitarbeitslosen und älteren Menschen sowie die damit verbundenen Gesundheits-, Wohn-, Kontakt und Arbeits- und Lerngewohnheiten berücksichtigt werden. Dabei wird selbstredend davon ausgegangen, dass neben materiellen Leistungen auch soziale Kontakte und die Realisierung partizipativer Angebote maßgeblich sind. Die Zahlen begründen nachdrücklich den vorliegenden Ansatz einer Identifizierung von Ressourcen und Aktivitäten auf kommunaler Ebene, deren Vernetzung für einen wirkungsvollen Einsatz sowie die Notwendigkeit einer Entwicklung und gemeinsamen Abstimmung lokaler Armutsbekämpfung und Armutsprävention.
Warum ein Pakt?
Ein Pakt unterscheidet sich von den bereits oben benannten Formaten durch ein höheres und allen bewusstes Maß an Verbindlichkeit. Netzwerke werden geknüpft, Pakte werden geschmiedet. Dies ist verbunden mit einer deutlichen Ansage an die Öffentlichkeit: Die Kasseler Stadtgesellschaft nimmt Armut nicht hin, sondern versucht aktiv, gegen diese vorzugehen. Der Pakt ist ein unmissverständlicher Ausdruck dieser Haltung.
Die Paktstruktur
Der Pakt basiert auf vier Paktforen mit jeweils 15 bis maximal 20 Mitgliedern. Die Foren gründen sich den Handlungsfeldern Wohnen inklusive Energie- und Lebenshaltungskosten, Kinder- und Familienarmut, Altersarmut sowie Arbeit und soziale Teilhabe.
Die Mitglieder der Foren kommen aus den verschiedensten sozialen Arbeitsbereichen, aus Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften sowie aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft.
Die Foren entsenden jeweils zwei Sprecherinnen und Sprecher in den Paktrat, der unter dem Vorsitz der Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Ilona Friedrich einmal im Quartal zusammenkommt.
Der Paktrat
Zum ersten Mal trafen am Donnerstag, 3. November, die Sprecherinnen und Sprecher der Foren des Kasseler Pakts gegen Armut in dem sogenannten Paktrat zusammen. Gemeinsam haben sie die Struktur und erste Arbeitsschritte der Paktforen festgelegt.
„Ich bin überwältigt wie viel Zuspruch unsere Idee des Pakts findet. Durch die hohe Inflationsrate und die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten wird die Arbeit der Paktmitglieder umso wichtiger und zeigt, dass wir in Kassel diesem wichtigen Thema eine große Bedeutung zusprechen – nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch für zukünftige Generationen unserer Stadt“, so Bürgermeisterin Ilona Friedrich, die zugleich den Vorsitz des Paktrates innehat. „Ich bin stolz darauf, dass wir in Kassel als Vorreiter dieses wichtige Thema angehen. Und ich bin mir sicher, dass wir die richtigen Schwerpunkte mit den vier Paktforen gesetzt haben. Sie sind das Herzstück unserer Arbeit und bearbeiten die Handlungsbereiche Wohnen inklusive Energie- und Lebenshaltungskosten, Kinder- und Familienarmut, Altersarmut sowie Arbeit und soziale Teilhabe.“
Die Mitglieder der Foren kommen aus den verschiedensten sozialen Arbeitsbereichen, aus Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften sowie aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft.
Die Gesichter des Rates
Die Foren entsenden jeweils zwei Sprecherinnen und Sprecher in den Paktrat, der unter dem Vorsitz der Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Ilona Friedrich einmal im Quartal zusammenkommt. Die Bürgermeisterin betont: „Im Paktrat laufen alle Stränge unserer Arbeit zusammen. Hier werden die Ideen und Initiativen aus den Foren vorgestellt, diskutiert und erfolgversprechende Ansätze in den politischen Entscheidungsprozess eingespeist.“
Sprecher des Forums „Wohnen, Energie- und Lebenshaltungskosten“ sind der GWG-Geschäftsführer Uwe Gabriel und Alexander Ponelies, Geschäftsführer des Caritas Verbandes Nordhessen-Kassel. Dezernentin Nicole Maisch kümmert sich gemeinsam mit der Regionalgeschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Rosa Hamacher um das Forum „Kinder- und Familienarmut“. Die Geschäftsführerin des Diakonischen Werks Region Kassel Tamara Morgenroth verantwortet zusammen mit der Leiterin des Kasseler Sozialamts Anja Deiß-Fürst das Forum zur „Altersarmut“. Das vierte Forum „Arbeit und soziale Teilhabe“ schließlich wird von Katja Kairies vom Jobcenter der Stadt Kassel und Denis Müller, Leiter der Kommunalen Arbeitsförderung, vertreten.
Moritz Butt und Jannik Zindel der Universität Kassel, Mitarbeiter von Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, begleiten zudem den Pakt wissenschaftlich.
Die Pakt-Foren
Paktforum I: Wohnen, Energie- und Lebenshaltungskosten
Die steigenden Lebenshaltungskosten beeinträchtigen mittlerweile immer mehr Menschen. Dafür ein Beispiel: Zum 1. Januar 2022 ist der Hartz-IV-Regelbedarf für Alleinstehende von 446 auf 449 Euro im Monat angehoben worden. Dies entspricht einer Erhöhung um 0,67 Prozent. Die aktuelle Inflationsrate beträgt jedoch rund sieben Prozent. Die Kostensteigerungen betreffen alle, ihre Evidenz steigert sich aber, je geringer die verfügbaren Haushaltseinkommen sind.
Sprecher des Forums „Wohnen, Energie- und Lebenshaltungskosten“ sind der GWG-Geschäftsführer Uwe Gabriel und Alexander Ponelies, Geschäftsführer des Caritas Verbandes Nordhessen-Kassel.
Paktforum II: Kinder- und Familienarmut
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, dass sich in Deutschland rund 21 Prozent aller Kinder mindestens fünf Jahre dauerhaft oder immer mal wieder in einer Armutslage befinden. Weitere 10 Prozent leben kurzzeitig in dieser Armutslage. Der häufigste Grund für Kinderarmut in Deutschland ist die Arbeitslosigkeit der Eltern. Auch Alleinerziehenden steht häufig nicht genug Geld zur Verfügung. Weil sie oft keine ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten für ihr Kind finden, können sie nur in Teilzeit arbeiten und landen schnell unterhalb der Armutsgrenze. Daneben tritt Kinderarmut in Familien mit drei oder mehr Kindern gehäuft auf, vor allem, wenn nur ein Elternteil erwerbstätig ist.
Dezernentin Nicole Maisch kümmert sich gemeinsam mit der Regionalgeschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Rosa Hamacher um das Forum „Kinder- und Familienarmut“.
Paktforum III: Altersarmut
Es wird mit einem stetigen Wiederanstieg der Altersarmut gerechnet, weil das Gros der Arbeitslosen, Teilzeitbeschäftigten, Minijobber und Geringverdienenden geringere Renten bekommen wird und das Rentenniveau der heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Zuge der letzten Rentenreformen gesenkt wurde. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung an. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge geht mittlerweile davon aus, das nahezu einem Drittel der Bevölkerung Verarmung im Alter droht.
Die Geschäftsführerin des Diakonischen Werks Region Kassel, Tamara Morgenroth, verantwortet zusammen mit der Leiterin des Kasseler Sozialamts, Anja Deiß-Fürst, das Forum zur „Altersarmut“.
Paktforum IV: Arbeit und soziale Teilhabe
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, dass ein immer größer werdender Anteil von arbeitslosen Menschen der sozialen Lage „Armut“ zugeordnet werden muss. Nach den zuletzt verfügbaren Daten waren rund zwei Drittel der Arbeitslosen der sozialen Lage „Armut“ zuzurechnen und nur noch acht Prozent der sozialen Lage „Mitte“. Auch diese Entwicklung hat sich seit den neunziger Jahren erheblich verschärft.
Das vierte Forum „Arbeit und soziale Teilhabe“ wird von Katja Kairies vom Jobcenter Stadt Kassel und Denis Müller, dem Leiter der Kommunalen Arbeitsförderung, vertreten.
Die Handlungsfelder „Gesundheit“ und „Integration“ werden als Querschnittsthemen in allen vier Paktforen mitbearbeitet werden.
Die Arbeit der Foren:
In den Foren werden bestehende Ressourcen und Aktivitäten des jeweiligen Handlungsfelds identifiziert, vernetzt und optimiert. (Bilanz und Standortbestimmung: Was wird bereits unternommen? Was funktioniert? Wo sind Bedarfe?) Neue lokale Ansätze zur Armutsbekämpfung und Armutsprävention werden entwickelt und durchgeführt. Im Idealfall werden Leuchtturm-Projekte initiiert und realisiert.
Jedes der Foren verfügt über eine Sprecherin oder einen Sprecher sowie eine stellvertretende Sprecherin oder einen stellvertretenden Sprecher. Die Sprecherinnen und Sprecher organisieren die Sitzungen der Paktforen. Unterstützt werden sie vom Paktkoordinator, der auch für die Protokollführung verantwortlich ist und in den Foren jeweils zu Beginn der Sitzungen über die Arbeit der anderen Foren berichtet. Der Sitzungsrhythmus wird vom jeweiligen Forum selbst bestimmt.
Die Sprecherinnen und Sprecher bilden zusammen mit den Stellvertretungen den Paktrat unter dem Vorsitz der Sozialdezernentin. Der Sitzungsrhythmus wird vom Paktrat selbst bestimmt.
Einmal im Jahr treffen sich alle Mitglieder der Paktforen zu einer Paktkonferenz, auf der die Arbeitsergebnisse vorgestellt werden und über neue Ansätze diskutiert wird.
Der gesamte Prozess wird von der Universität Kassel begleitet und unterstützt.
5 Fragen an den Paktkoordinator Carsten Höhre
Mit dem „Pakt gegen Armut“ bündelt die Stadt Kassel die Kräfte zur Armutsbekämpfung. Was steckt genau hinter dahinter?
Die Stadt und die Zivilgesellschaft engagieren sich seit langer Zeit in vielfältiger Weise gegen Armut. Nun wird der Kasseler Pakt gegründet, um auch den neuen Herausforderungen begegnen zu können. Es werden bestehende Ressourcen und Aktivitäten auf kommunaler Ebene identifiziert, miteinander vernetzt und wirkungsvoller eingesetzt. Gleichzeitig werden neue lokale Ansätze zur Armutsbekämpfung und Armutsprävention entwickelt und durchgeführt. Und warum ein Pakt? Ein Pakt unterscheidet sich von anderen Formaten durch ein höheres und allen bewusstes Maß an Verbindlichkeit. Netzwerke werden geknüpft - Pakte werden geschmiedet. Dies ist verbunden mit einer deutlichen Ansage an die Öffentlichkeit: Die Kasseler Stadtgesellschaft nimmt Armut nicht hin, sondern versucht, aktiv gegen diese vorzugehen. Der Pakt ist ein unmissverständlicher Ausdruck dieser Haltung.
Was genau sind die Ziele und wie will man sie konkret erreichen?
Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen hat einmal formuliert: Armut ist ein Ausdruck eines Mangels an Verwirklichungschancen. Diese Definition führt direkt zu einer Leitidee des Pakts: „Der Kasseler Pakt gegen Armut setzt sich zum Ziel, die Lebenslagen und die Lebenschancen von Armut betroffener Menschen in unserer Stadt zu verbessern und ihre Teilhabechancen spürbar zu stärken.“
Um diese Ziele zu erreichen, wird in vier Paktforen gearbeitet. Diese kümmern sich um die Handlungsbereiche Wohnen, Energie-und Lebenshaltungskosten, Kinder- und Familienarmut, Altersarmut sowie Arbeit und soziale Teilhabe. Die Foren entsenden jeweils ihre Sprecherinnen und Sprecher sowie deren Stellvertretungen in den Paktrat unter Vorsitz der Bürgermeisterin und Sozialdezernentin. Von dort werden die jeweiligen Ansätze der Foren in den politischen Entscheidungsprozess eingespeist. Eine jährliche Paktkonferenz aller Forenmitglieder ergänzt die Struktur. Die erste Arbeitskonferenz, in der sich unter anderem die Foren konstituieren werden, findet am 16. November 2022 statt.
„Pakt gegen Armut“ – das hört sich ja schon etwas bedrohlich an. Sind denn in Kassel so viele Menschen arm? Und wann ist man überhaupt arm?
Die Armutsquote steigt in fast allen deutschen Großstädten an. Mit rund 18 Prozent hat sie auch in Kassel einen hohen Stand erreicht. Hinzu kommt, dass steigende Lebenshaltungs- und Energiekosten die Lebenssituation vieler Menschen beeinträchtigen. Wenn ich die aktuellen Zahlen betrachte, dann haben wir in Relation zum Vorjahresmonat eine Inflationsquote von 7,9 Prozent, eine Steigerung der Haushaltsenergiekosten von 46,4 Prozent und einen Anstieg der Preise für Nahrungsmittel von 16 Prozent. Die Situation entwickelt sich zurzeit dramatisch. Klassisch definiert wird Armut als relative Armut mit dem Grad an Unterschreitung durchschnittlicher Lebens- und vor allem Einkommensstandards. In der EU gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens im jeweiligen Mitgliedsstaat erzielt.
Allein - dieser Ansatz allein greift zu kurz, denn Armut hat viele Gesichter. Ein Mangel an materiellen Ressourcen ist stets gekoppelt mit einer massiven Einschränkung von Lebenschancen. Armut hat eine soziale, kulturelle und auch psychische Dimension. Sie wirkt sich negativ auf die Einstellungen und Haltungen zum eigenen Leben aus. Wenn man permanent auf Möglichkeiten verzichten muss, die für andere selbstverständlich sind, dann ist das sehr häufig mit Hoffnungslosigkeit, Scham, Resignation und Rückzug verbunden.
Wie und wer ist auf die Idee gekommen, den „Pakt gegen Armut“ zu schmieden?
Der Pakt war politische Forderung, die von Bürgermeisterin und Sozialdezernentin Ilona Friedrich aufgenommen wurde und nun umgesetzt wird. Die Entwicklung von Armut seit der Corona-Krise und deren Verschärfung durch den Krieg in der Ukraine machen ein entsprechendes Handeln erforderlich. Ich gehe spätestens seit der überaus gut besuchten Auftaktveranstaltung des Paktes am 16. September von einem breiten Konsens in Stadtgesellschaft und der Stadtpolitik zu Gunsten des Paktvorhabens aus.
Wer macht da alles mit?
Das Vorhaben kann nur gelingen, wenn sich möglichst viele relevante Akteurinnen und Akteure aktiv einbringen. Auch hier bin ich seit unserer Auftaktveranstaltung guten Mutes. Deren Teilnehmende kamen aus verschiedenen sozialen Arbeitsbereichen, aus Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften sowie aus Politik, Wirtschaft und Stadtgesellschaft. Auch eine Reihe interessierter Bürgerinnen und Bürger waren vor Ort dabei. Alle eint sie das Interesse am Angehen der Armut in unserer Stadt. Viele haben bereits ihren Willen bekundet, im Pakt aktiv mitzuarbeiten.
Zur Person: Carsten Höhre, 62 Jahre alt, Sozialwissenschaftler, verheiratet, 2 erwachsene Kinder. Bei der Stadt Kassel seit 2017, vorher als Koordinator des nordhessischen Beschäftigungspakts bei der Wirtschaftsförderung Region Kassel. Von 2017 bis 2021 Integrationsbeauftragter. Seit 2019 bei der Kommunalen Arbeitsförderung, zuletzt als Abteilungsleiter, seit August 2022 Koordinator des „Pakts gegen Armut“. Dazu weiterhin seit 2017 städtischer Moderator des Runden Tisch der Religionen, des Arbeitskreises der muslimischen Gemeinden und der muslimischen Notfallbegleitung.
Kontakt
Carsten Höhre
Abteilungsleitung
Anschrift
Raum: 1.02
Fünffensterstraße 5
34117 Kassel
Kontakt
- 0561 787-5801
- 0561 787-5821
- carsten.hoehrekasselde