Philipp Scheidemann, 1920 bis 1925

Mit einem ungewöhnlichen Gepäck schritt am Nachmittag des 7. Dezember 1953 ein spitzbärtiger älterer Herr die Rathaustreppe hinauf, um das im zweiten Stock gelegene Amtszimmer des Oberbürgermeisters zu erreichen. Er hatte in einer Urne die sterblichen Überreste Philipp Scheidemanns (26.7.1865 bis 29.11.1939) bei sich.

Philipp Scheidemann

Kasseläner Junge mit Witz

Es war der 67-jährige Oberbürgermeister der dänischen Landeshauptstadt Kopenhagen, Hans Peter Sörensen, der die Urne Oberbürgermeister Willi Seidel übergeben wollte, damit sie an würdiger Stätte beigesetzt würde. In Anwesenheit der Presse erläuterte der Kopenhagener Amtskollege, dass der in Kopenhagen im Exil verstorbene Philipp Scheidemann den Wunsch geäußert hatte, in Berlin an der Seite seiner Frau beigesetzt zu werden. Das, so Sörensen, sei aber derzeit nicht durchführbar, da der Friedhof im sowjetischen Sektor der Stadt liege.

Ein knappes Jahr danach fand die feierliche Beisetzung der Urne auf dem Kasseler Hauptfriedhof statt. Die Grabstätte beeindruckt auch heute durch ihre künstlerische Gestaltung und großzügige Anlage. Es ist das aufwändigste Ehrengrab, das die Stadt Kassel unterhält.

Wer ist nun dieser Philipp Scheidemann, nach dem die städtischen Gremien einen Platz in der Innenstadt sowie ein Bürgerhaus in der Nordstadt benannt haben?

In der Nähe des Zeughauses, in einem Fachwerkhaus der Schwarzen Michelsgasse, wurde am 26. Juli 1865 Philipp Scheidemann geboren. Als er gerade 14 Jahre alt war, starb sein Vater, ein Tapezier- und Polstermeister. Da die Familie weder das Schulgeld noch das damals übliche Lehrgeld aufbringen konnte, lernte der junge Philipp den Beruf des Schriftsetzers, was ihm nicht nur zwei Reichsmark Lohn in der Woche einbrachte, sondern auch solide Kenntnisse im Umgang mit Sprache und Wort, die ihm später sehr nützlich sein sollten.

Pseudonym „Henner Piffendeckel“

Von einem Onkel erfuhr er von den sozialdemokratischen Bestrebungen, für die er sich seitdem voll und ganz engagierte. 1903 gelang es ihm erstmals, als Abgeordneter in den Deutschen Reichstag in Berlin gewählt zu werden. Seine erste Rede im Reichstag galt übrigens einem Gesetzesentwurf zur Reinhaltung von Luft und Wasser! In Kassel wirkte er viele Jahre als Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung „Volksblatt“. Unter dem Pseudonym „Henner Piffendeckel“ verfasste er nebenher manche „Geschichderchen“ in Kasseler Mundart, die sich durch viel Humor auszeichnen und nach wie vor lesenswert sind. Als erster Sozialdemokrat wurde er im Jahre 1912 zum Vizepräsidenten des Deutschen Reichstags gewählt, bei der obligatorischen zweiten Abstimmung aber nicht bestätigt, da er sich weigerte, an einem Empfang des Kaisers teilzunehmen.

In die deutsche Geschichte ging der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 ein, als er in Berlin durch Ausrufen der Republik dem Kaisertum ein Ende bereitete. Damit kam er den späteren Kommunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zuvor, die eine Räterepublik nach sowjetischen Vorbild ausrufen wollten. Von seinem Parteifreund Friedrich Ebert, der den eigenmächtigen Schritt Scheidemanns für falsch hielt, handelte er sich heftige Kritik ein, da nach Eberts Meinung vor Ausrufung der Republik eine verfassunggebende Versammlung zu bilden war.

Am 19. Dezember 1919 wurde Philipp Scheidemann mit der sozialdemokratischen Mehrheit im Kasseler Stadtparlament für die Dauer von zwölf Jahren zum Oberbürgermeister gewählt. Ein Sozialdemokrat an der Spitze einer deutschen Großstadt, das war im Jahre 1919 noch etwas Ungewöhnliches, und ein knappes Jahr zuvor, während des Kaiserreiches, wäre das undenkbar gewesen. Aber warum fand sich der seit vielen Jahren in Berlin agierende Scheidemann bereit, aus dem pulsierenden Zentrum der politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen nach Kassel zu gehen?

Kein ruhiger Posten in der Provinz

Aus Protest gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrages war er kurz zuvor von seinem Amt als Reichsministerpräsident zurückgetreten. Berühmt wurde sein Ausspruch: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legt“ (wenn sie diesen Vertrag unterzeichnen würde). Scheidemanns Rückhalt innerhalb der eigenen Partei war stark im Abnehmen begriffen, seine Kontroverse mit Friedrich Ebert im besonderen machte ihm zu schaffen. Scheidemann musste sich eingestehen, dass er auf der Berliner Bühne ins Abseits geraten war. Da mochte der vermeintlich ruhige Posten in Kassel gerade recht sein und auch einigen Freiraum bieten. So folgte er dem Ruf der Kasseler Parteifreunde, ließ sich aber zusichern weiterhin auch als Reichstagsabgeordneter in Berlin wirken zu können.

In Kassel aber erwartete Philipp Scheidemann alles andere als ein ruhiger Posten in der Provinz. Die bürgerlichen Parteien – Deutsche Volkspartei, Deutschnationale und Bürgerbund vor allem – opponierten von Anfang an lautstark gegen das neue Stadtoberhaupt. Sie sprachen Scheidemann jegliche Qualifikation zur Führung des Amtes ab. Im Laufe der Zeit musste er sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich zu wenig um die Probleme der Stadt kümmern würde. Seine häufige Abwesenheit von Kassel infolge seiner parlamentarischen Tätigkeit in Berlin brachte ihn aber auch mit den eigenen Parteigenossen in Konflikt. Wenn die Kasseler Amtsgeschäfte dennoch nicht aus dem Lot gerieten, lag es sicherlich an Bürgermeister Karl Brunner, einem routinierten Verwaltungsmann, der als zweiter Mann „die Dinge im Griff hatte“.

Im Mai 1924 kündigte sich dann das vorzeitige Ende der Amtszeit Philipp Scheidemanns an. Bei der Kommunalwahl am 4. Mai erlitt die SPD eine deutliche Niederlage. Schon in der zweiten Stadtverordnetensitzung stellten die bürgerlichen Parteien, die nun eine Mehrheit hatten, einen Misstrauensantrag gegen den Oberbürgermeister. Der Antrag kam zwar durch, war aber rechtlich nicht bindend. Nun versuchten es die bürgerlichen Parteien mit weiteren Anträgen, so dass sich schließlich der Regierungspräsident einschaltete. Unter dessen Vermittlung kam es im Juli 1925 zu einer Einigung zwischen den Parteien, so dass Oberbürgermeister Philipp Scheidemann zum 1. Oktober 1925 aus dem Amt schied.

Gewandt nicht nur im Reden sondern auch im Schreiben, ging Scheidemann nun daran, sein Leben zu Papier zu bringen. Im Jahre 1928 erschienen seine zwei, jeweils mehrere hundert Seiten umfassenden Bände „Memoiren eines Sozialdemokraten“. Auf seine Tätigkeit als Oberbürgermeister geht er darin leider so gut wie gar nicht ein. Es finden sich lediglich einige Bemerkungen über seine Berufung, das Attentat, das 1922 im Habichtswald auf ihn verübt wurde, und einige Anfeindungen, denen er sich in Kassel ausgesetzt sah.

Zusammenfassende Urteile über Scheidemanns Oberbürgermeistertätigkeit fallen recht unterschiedlich aus. Wohlwollende schreiben seinem Einfluss manchen Erfolg zu, politisch Andersdenkende meinen eher, dass vieles trotzdem zustande gekommen sei. Belassen wir es bei der Einschätzung seines Altersgenossen und Parteifreundes Albert Grzesinski: „Scheidemann war ein guter Journalist und Redakteur, auch ein guter Parlamentarier und ein glänzender, schlagfertiger Redner; ob auch ein ebenso guter Ministerpräsident und Oberbürgermeister, scheint mir zweifelhaft“.

Stadtarchiv Kassel verfügt über Unterlagen

Ein Teil seines Nachlasses wird im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung aufbewahrt. Aber auch das Stadtarchiv Kassel bewahrt einige interessante Unterlagen zu Philipp Scheidemann in seinen Beständen auf. Neben Fotos aus dem umfangreichen Bilderbestand zählen dazu unter anderem die Originalunterschrift unter dem Eid als Oberbürgermeister, seine Personalakte, ein Stammbaum der Familie Scheidemann und Aktenmaterial zur Umbettung der Urne Philipp Scheidemanns 1953/54. Hinzu kommen noch Meldekarten, Personenstandsunterlagen und Adressbucheinträge.