KISS Interview: Selbsthilfegruppe LiLy-Belles

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2020

Mut machen und für sich eintreten
Selbsthilfegruppe LiLy-Belles engagiert sich für Menschen mit Lip- und Lymphödem

Für Dagmar Scholling begannen die Probleme am Ende der Pubertät. Erst Jahre später folgte die Diagnose Lipödem. Ursache dafür, dass sich ihr Fettgewebe krankhaft vermehr­te und die Schmerzen zunahmen. Mittlerweile hat sie zwei Selbst­hilfegruppen in Fritzlar und Kassel gegründet und setzt sich öffentlich für Aufklärung über die Erkrankung ein. Auch politisch hat die Selbsthil­fegruppe schon Einiges bewirkt. Dagmar Scholling erlebte in ihrer Pubertät besondere Herausforderun­gen. Ihre Beine wurden immer dicker, der Po veränderte sich. Nach einer Schwangerschaft folgten Schmer­zen, auch bei Berührung. „Wie alle anderen auch dachte ich anfangs, ich muss wieder dünner werden“, erzählt sie. Ihr Umfeld und die Ärzte sagten dazu nur: „Du bist zu dick, du musst abnehmen“. Sie versuchte es mit Sport. Erfolglos, denn die Ursache für ihre Probleme war eine Erkrankung, genauer eine Fettverteilungsstörung. Bei einer Reha nach einer Lungenembolie bekam sie mit 41 Jahren 2010 endlich die richtige Diagnose für ihre Probleme: Lipödem.

Etwas zur Aufklärung tun
Sie entschloss sich 2013 zur operati­ven Fettabsaugung, der sogenannten Liposuktion – die allerdings nicht von der Kasse bezahlt wurde. „Danach wollte ich mich über meine Erfah­rungen austauschen und etwas zur Aufklärung tun“, erläutert sie, dabei dachte sie zuerst nicht an Selbsthil­fe. Bis sie vor zwei Jahren bei einer Tagung zum Lipödem andere Frau­en mit dieser Krankheit traf. 2018 gründete sie die Selbsthilfegruppe bei Lip-Lymphödem „LiLy-Belles Nordhessen“ in Fritzlar, 2019 folgte die Gruppe in Kassel. LiLy setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Lip-und Lymphödem zusammen.

Selbstwertgefühl stärken
Frauen mit den gleichen Erfahrungen zu treffen und verstanden zu werden erleichtert sehr und stärkt das ange­griffene Selbstwertgefühl. Die vielen Diäten können zu Ess-Störungen führen. Psychische Probleme sind Folge der Schmerzen und der Reakti­onen im Umfeld, Sprüche wie: „Muss die Dicke auch noch ein Eis essen?“ tun weh. Die erkrankten Frauen ziehen sich zurück. Sie trauen sich zum Beispiel nicht in ein Schwimm­bad, obwohl Schwimmen ihnen guttun würde. Die Gruppe schafft hier ein Gemeinschaftsgefühl, das Mut macht, sich solchen Situationen wieder mit mehr Selbstbewusstsein zu stellen. Zusätzliche Unterstützung bekamen die Frauen durch einen Mentalworkshop mit einer Beraterin.

Betroffene ermutigen
Wichtige Themen in der Gruppe sind der Austausch über Ärzte oder Sa­nitätshäuser sowie über rechtliche Fragen. Passen beispielsweise die Kompressionsstrümpfe nicht, die getragen werden müssen, gilt es, sich vom Sanitätshaus beim Um­tausch nicht abschrecken zu lassen. Es erfordert Mut und Wissen, in der Arztpraxis zu sagen: „Diese Verord­nung ist falsch ausgestellt, sie muss anders lauten, damit die Kranken­kasse das übernimmt“. „Wir wollen in der Gruppe ermutigen“, sagt Dagmar Scholling. Die gegenseitige Informa­tion über die Krankheit und deren Therapien und Stadien erhöht die Kompetenz der Frauen im Umgang mit ihren Problemen.

Draht zum Gesundheitsminister
Informationen aus erster Hand bekam Gesundheitsminister Jens Spahn, als eine vom Lipödem Be­troffene auf ihn zuging. Danach versprach er auf Twitter: „Den Schwerstbetroffenen unbürokratisch zu helfen.“ Tatsächlich zahlen jetzt die Krankenkassen die Liposuktion, also die operative Fettabsaugung. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Die Frauen müssen schwerstbetroffen, also in Stadium 3 sein, und einen BMI unter 35 haben (der Body Mass Index (BMI) ist eine Formel zur Gewichtsberechnung). Diese Voraussetzung erfüllt kaum eine Frau, sagt Dagmar Scholling. 

Immerhin ist eine Erprobungsstudie zur Erforschung der Erfolge von Liposuktion bei einem Lipödem geplant. Dafür wurden 450 betroffene Probandinnen gesucht. Auch Lily-Belles hat diese Information kommuniziert. Ein weiterer Erfolg ist, dass Lymphdrainage für erkrankte Personen jetzt bezahlt wird. Obwohl sie hilfreich und wichtig ist, war die Bezahlung durch Krankenkassen oft ein Kampf. Heilbar ist ein Lipödem nicht, doch durch die OP – meist sind mehrere notwendig – können sich die Krankheit und vor allem die Schmerzen verbessern. Dagmar Scholling hat dies bei mehreren Operationen selbst erfahren. Dennoch muss sie weiter­hin Kompressionskleidung tragen, auf ihre Ernährung achten und viel Sport treiben. Ein Lipödem kostet die Betroffenen viel Zeit. 

Infostand und Upcycling
Trotzdem nimmt sich Dagmar Scholling Zeit für die Aufklärung der Öffentlichkeit. Dies tat sie zum Beispiel mit anderen Frauen an einem Infostand im Schwimmbad im Kasseler Stadtteil Harleshausen und fand dort ein interessiertes Publikum. Die Gruppe war in 2019 an verschiedenen Infotagen in Nordhessen präsent, bei Selbsthilfetagen, einem Tag der offenen Tür eines Fitness-Studios, und bei Advent in den Höfen in Fritzlar. Dies soll nach Corona auch so fortgeführt werden, sobald es wieder möglich ist. 

Am Infostand gibt es auch die Produkte der Lily-Belles gegen eine Spende zu erstehen. Einige kreative Frauen haben sich zusammengetan und lassen aus alten Kompressions­strümpfen etwas Neues entstehen. Eine Kosmetiktasche oder kleine Bänder, die wie Kabelbinder genutzt werden können. Firmen haben dafür bereits Musterstrümpfe gespendet. Die Gruppe zeigt: Das Leben ist auch mit Lipödem lebenswert.

Infos zu Lipödem
Das Lipödem ist eine chronische, fortschreitende Fettverteilungsstörung, die fast ausschließlich Frauen betrifft. Das Fettgewebe in der unteren Körperhälfte vermehrt sich dabei in verschiedenen Stadien auf krankhafte Weise. Insbesondere Beine und Po sind betroffen. 

Stadium I: Hautoberfläche glatt, Unterhautfett verdickt, Fettstruktur feinknotig.
Stadium II: Hautoberfläche uneben, Fettstruktur grobknotig.
Stadium III: Gewebe zusätzlich derber und härter, großlappig deformierende Fettlappen.
Stadium IV: Zusätzlich starkes Lymphödem (Elephantiasis).

Je nach Stadium bilden sich kleine oder größere Knoten, es kommt zu Wassereinlagerungen (Ödeme) sowie Druck-, Berührungs- und Spontanschmerzen. In seltenen Fällen sind auch die Arme von einem Lipödem betroffen. Die Betroffenen leiden in vielerlei Hinsicht – körperlich und psychisch. Die Symptome verstärken sich im Laufe der Jahre: Die Fettzellen vermehren sich, die Ödeme nehmen zu und damit auch die Druckschmerzen. Außerdem können Folgeerkrankungen entstehen, insbesondere orthopädische, aber auch psychische Erkrankungen. Wie häufig die Erkrankung auftritt, ist unklar und auch die Ursachen sind bislang kaum erforscht.
Quelle: zdf.de/lipoedem-hilfe

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