KISS Interview: Selbsthilfegruppe Frei Sprechen

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2016

Mit Übung gegen die Angst
In der Selbsthilfegruppe „Frei Sprechen“ lernen Menschen spontan zu reden und vorzutragen

„Kennt Ihr den Unterschied zwischen Garantie und Gewährleistung?“ Mit dieser Frage eröffnet eine Teilnehmerin in der Gruppe Frei Sprechen ihren kurzen Vortrag. Unabhängig vom Thema geht es an diesem Donnerstagabend im Johanna-Waescher-Raum im KISS-Selbsthilfetreffpunkt darum, das freie Sprechen zu üben. Acht Menschen unterschiedlichen Alters sowie der Gruppenleiter sind gekommen, um gemeinsam zu üben.

Seit Anfang des vergangenen Jahres existiert die Gruppe. Der Gruppenleiter lernte die Methode des freien Sprechens in einer Selbsthilfegruppe in Hamburg kennen. Weil sie ihm half, einen Riesensprung zu machen, entschloss er sich, das freie Sprechen auch in Kassel anzubieten, als er dorthin umzog. „Ich hatte große Angst, im Studium etwas zu präsentieren“, erläutert er den Teilnehmenden, die diese Angst aus eigener Erfahrung kennen.

In einer Vorstellungsrunde erleben sie die erste Feuerprobe und müssen vor der Gruppe etwas von sich erzählen. Das schaffen alle ohne Probleme, auch die beiden Frauen, die heute zum ersten Mal dabei sind. „Ich merke, wie sich das freie Sprechen bei mir ganz langsam zum Besseren wendet“, sagt einer, der schon länger dabei ist. „Man wird selbstsicherer und kann hier relativ angstfrei üben“, meint ein anderer Mann. Eine Frau ist hier, weil sie Schwierigkeiten hat, etwas Fachliches verständlich zu erläutern. Eine Studentin hat Probleme mit Vorträgen an der Uni und die nächste Frau damit, spontan zu reden.

Jeder von ihnen wird im Laufe der nächsten zwei Stunden zwei Mal die Gelegenheit haben, vor der Gruppe zu üben. Er kann drei, vier oder fünf Minuten reden, jedem Teilnehmenden stehen ungefähr zehn Minuten zur Verfügung. Man kann eine spontane Rede zu einem Stichwort halten, das die anderen Gruppenteilnehmer bestimmen. Man darf etwas Vorbereitetes mitbringen oder zu einem eigenen Thema spontan etwas erzählen. Oder einfach nur zuhören. Die Devise des Frei Sprechens lautet: Übung macht den Meister, durch Üben lässt die Angst nach, Übung schafft Routine. Deshalb steht die Angst vor dem Sprechen in der Gruppe nicht im Mittelpunkt, sondern das Tun.

Blickkontakt und Mimik Zuerst einmal demonstriert der Gruppengründer, dass er in Hamburg gelernt hat, wie man überzeugend vorträgt. Er geht nach vorne, greift zum Stift, notiert auf dem Flipchart zuerst „Blickkontakt“, später „Mimik“ und erläutert nacheinander, warum sie beim Vortragen wichtig sind. Wobei er genau das umsetzt, was er erklärt. Er hält Blickkontakt und seine Mimik untermalt das Gesagte. Schwer vorstellbar, dass dieser Mann mal Angst vor dem Vortragen hatte. Beifall für ihn, so wie für alle anderen, die sich heute trauen.

Eine Frau erzählt in ihrem Vortrag von ihrem Beruf und der Berufung, eine andere von ihrem Traumberuf, den sie noch immer nicht ausübt. Nur privat und ehrenamtlich arbeite sie jetzt mit Menschen. Eine Studentin berichtet von ihren Studienfächern Der Gruppenleiter hat sein Handy auf dem Tisch liegen und sorgt dafür, dass die Redezeit von drei bis fünf Minuten eingehalten wird. Die Studentin bekommt, wie alle anderen, eine Rückmeldung. Sie wirke charmant, sagt jemand. Das scheint sie zu überraschen, aber auch zu freuen. Bei den Rückmeldungen geht es nicht um die Inhalte der Rede, sondern um das Wie. Was war gut, was hätte man besser machen können? Das Feedback soll konstruktiv sein.

Lockere Atmosphäre
Alle meistern an diesem Abend ihren Vortrag mit Bravour und das Zuhören ist angesichts der unterschiedlichen Themen kurzweilig. Ein Mann hat etwas Kurzes vorbereitet, eine Frau ebenfalls. Sie bringt Themen mit, die sie später für ihre Prüfung brauchen wird. Sie alle waren nervös und die meisten staunen und schauen etwas ungläubig, wenn es bei der Rückmeldung zum Beispiel heißt: Du hast so selbstsicher gewirkt. Man musste Dir einfach zuhören. „Aber ich war zwischendurch in Panik.“ Auch das ein Lerneffekt: Die Angst war nicht sichtbar.

Die Atmosphäre in der Gruppe ist locker, es wird auch gelacht. Alle sollen alle am Ende mit dem guten Gefühl nach Hause gehen, dass sie es ja doch können! „Wir sind eine kleine Gemeinschaft geworden“, erzählt eine Teilnehmerin. Und sicherer sei sie ebenfalls geworden. Dem würden wahrscheinlich alle zustimmen, die länger dabei sind. Zusammen mit dem positiven Feedback wirkt beim freien Sprechen vor allem eins: Die Übung in der Gruppe.

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