KISS Magazin: Interessengemeinschaft Fragiles-X e. V.

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2017

Kinder bevorzugen Routinen
Kinder und Jugendliche mit Fragilem X-Syndrom stellen Bezugspersonen vor spezielle Herausforderungen

Das Fragile-X Snydrom (FraX) ist die häufigste Form erblicher Lern- und geistiger Behinderungen. Die Familien, aber auch das Umfeld, werden vor echte Herausforderungen gestellt, weil die Kinder mit X-Syndrom sich auffällig verhalten. In Kassel bekommen betroffene Familien in einer Selbsthilfegruppe Informationen und Hilfe von anderen Betroffenen, lernen aus den Erfahrungen anderer Familien und mit der Diagnose FraX zu leben. Die Selbsthilfegruppe in Kassel existiert seit rund zwei Jahren, geleitet wird sie von Ria van Houten.

Hätte ihr Sohn sich nicht auffällig verhalten, wäre Ria van Houten gar nicht auf Idee gekommen, dass auch ihre Tochter am Fragilen-X Syndrom erkrankt sein könnte. Meist sind die Jungen stärker betroffen und fallen auf, vererbt wird der Gendefekt allerdings über die Mütter, denn nur die Mütter können das veränderte X-Chromosom an den Nachwuchs weitergeben. Viele Frauen sind meist lediglich Trägerin der Anlage, ohne selbst Symptome zu haben. Nicht jede Frau mit der Anlage vererbt die Krankheit, die Wahrscheinlichkeit liegt bei 50 zu 50.

Die Auswirkungen der Erkrankung sind weitreichend und unterschiedlich. Manchmal gelten die Kinder nur als „schüchtern“, doch sie können auch starke soziale Ängste haben und zeigen Verhaltensweisen, die autistische Züge tragen. Dass etwas nicht stimmt, wird bei Jungen spätestens in der Schule unübersehbar. Dann beginnt die Suche nach der Ursache. Ist die Diagnose „FraX“ gestellt, ist sie für die Eltern ein Schock und es fällt schwer, sie zu akzeptieren.

Andere betroffene Eltern in der Gruppe, die diese Gefühle selbst durchlebt haben, können dabei helfen. Denn es heißt Abschied zu nehmen von dem, was man sich für sein Kind vorgestellt und erträumt hat. Vor allem die Mütter leiden unter Schuldgefühlen, da sie die Erkrankung vererbt haben. Dazu kommt, dass die Verwandten informiert werden sollten, weil es weitere Anlageträger und Anlageträgerinnen geben könnte. „In solchen Fällen sind Familien, die ganz offen mit dem Thema umgehen, für andere ein gutes Beispiel“, sagt Ria van Houten.

Die Bewältigung des Alltags ist ein weiteres wichtiges Thema in der Gruppe. Betroffene Kinder bevorzugen bekannte Tagesabläufe und halten gern Routinen ein. Veränderungen und Übergänge sind für sie oft schwer zu bewältigen. Wenn der Schulbus ihres Sohnes beispielsweise nur fünf Minuten später kommt, wird er aufgeregt und muss sich übergeben, sagt die Gruppenleiterin. Manchmal kommen die Kinder nach Hause und schreien oder sind furchtbar aufgeregt. Die Eltern wissen dann nicht, warum. Auslöser kann eine Veränderung in der Schule gewesen sein, vielleicht wurde das Kind auf einen anderen Platz gesetzt.

Häufig fragt der Lehrer das Kind, was denn los sei, wenn es sich aufregt. Doch das regt das Kind nur mehr auf. Lehrkräfte und Erzieher müssen den richtigen Umgang mit den von FraX betroffenen Kindern erst lernen. Hier bietet der bundesweit aktive Dachverband Interessengemeinschaft Fragiles-X-e.V. Informationsmaterial an, auch in der Gruppe in Kassel gibt es Tipps dazu.

Kläre ich den Mitmenschen darüber auf, was mein Kind hat, wenn es sich auffällig verhält und auf Unverständnis trifft? Ein Kind macht notorisch nach, was es gerade hört. Andere haben verbale oder motorische Ticks. FraX Kinder agieren sehr häufig außerhalb des Normbereichs. Da kann ein Vater ein gutes Beispiel sein, der mit seinen beiden betroffenen Söhnen das Zugabteil betrat und gleich erklärte: „Meine Söhne haben FraX, wenn Sie wissen möchten, was das ist, ich sitze dort drüben.“ Die Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V. entwickelte Karten mit Infos, die manche Eltern bei Bedarf gerne verteilen.

Je früher die Diagnose gestellt wurde, umso früher können die Betroffenen und die Bezugspersonen lernen, mit den Auffälligkeiten besser umzugehen. Auch die Sozialkompetenz der betroffenen Kinder kann trainiert werden. Trotz der Beeinträchtigung besitzen Menschen mit FraX Fähigkeiten und Talente wie andere auch. Viele haben ein hervorragendes Langzeitgedächtnis, prägen sich besondere Orte und Wege fotografisch ein. Oder sie haben ein besonderes Interesse für ein Sachgebiet und eignen sich dazu viel Wissen an. Und sie sind meist lebensfrohe und freundliche Persönlichkeiten.

Infos zu: Fragiles-X Syndrom
Das Fragile-X Syndrom wird durch einen Gendefekt auf dem X-Chromosom - einer beschädigten Sequenz in den Basen - hervorgerufen. Etwa jedes 3000. Neugeborene ist betroffen, geschätzt leben in Deutschland etwa 25 000 Menschen mit Fragilem-X Syndrom. Vererbt wird der Gendefekt über die Mutter, etwa jede 200. Frau ist Anlageträgerin, oft ohne es selbst zu wissen. Das Spektrum der Beeinträchtigungen ist sehr weit und reicht von gar keinen oder sehr milden Symptomen bei Mädchen bis hin zu schwerer geistiger Behinderung bei Jungen und Mädchen, wobei männliche Patienten in der Regel stärker betroffen sind. Körperliche Folgen können lange und schmale Gesichter, große und abstehende Ohren sein. Betroffene fallen vor allem durch ihr Verhalten auf. Hyperaktivität, Handwedeln und Handbeißen, Defizite in der Aufmerksamkeit sowie der Feinmotorik, verzögerte Entwicklung vor allem in der Sprache, soziale Scheu, dem Bestehen auf festen Abläufen, bis hin zu einer Autismus-Spektrum- Störung. Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
Quelle: www.frax.de

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