KISS Interview: FortSchritt Nordhessen

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2018

„Am besten zählt man die Stunden nicht“
Der Verein FortSchritt Nordhessen organisiert spezielle Förderung für behinderte Kinder und Jugendliche

Selbsthilfegruppen machen sich seit über 30 Jahren auf den Weg, Versorgungsangebote selbst zu organisieren, wenn sich für ihre Betroffenen das Gewünschte nicht findet. Ein aktuelles Beispiel ist der Elternverein FortSchritt Nordhessen, der in Selbsthilfe ein spezielles Angebot für Kinder und Jugendliche mit Cerebralparese oder anderen Nerven undHirnschäden organisiert: Die Konduktive Förderung (siehe Erklärung am Ende), die von einem ungarischen Arzt und Pädagogen entwickelt wurde. Aktuell wird der Verein sogar zum Arbeitgeber für einen professionellen familienunterstützenden Dienst.

„Aber dann, aber dann fliegt ein Taschentuch“, Konduktorin Zsuzsa spricht rhythmisch und streckt die Arme in die Höhe. Die siebenjährige Elisabeth spricht mit und streckt ihre Ärmchen ebenfalls nach oben, um den Flug des Taschentuchs nachzuahmen. Als sie es geschafft hat, freut sie sich. Für Elisabeth sind solche Bewegungen nicht selbstverständlich. Sie leidet an einer cerebralen Hirnschädigung, die sich vor allem in einer Spastik zeigt. Sprechen ist mühsam, Hände und Beine verkrampfen aufgrund einer erhöhten Muskelspannung. Heute bekommt sie von Zsuzsa, die aus Ungarn angereist ist, Einzelförderung in einem Hinterhaus in der Kastenalsgasse in Kassel.

Angemietet hat das Haus die Elterninitiative FortSchritt Nordhessen. 35 behinderte Kinder und Jugendliche nehmen pro Jahr an der Konduktiven Förderung teil, viele kommen immer wieder. Neben der Einzel- findet mehrmals jährlich Gruppenförderung statt mit fünf mal sechs Stunden. Der Verein gründete sich 1996 mit dem Ziel, dieses Angebot nach Nordhessen zu holen, damit betroffene Kinder und Jugendliche und deren Eltern davon profitieren können. Denn von den Krankenkassen wird diese Art der Versorgung nicht bezahlt.

Die Vorsitzende des Elternvereins, Barbara Klemm-Röbig, hat den Verein gemeinsam mit einem anderen Elternpaar ins Leben gerufen. Mittlerweile zählt die Initiative seit Jahren rund 80 Mitgliedsfamilien. Gemeinsam mit dem Hessischen Diakoniezentrum Hephata organisierten sie 1997 in Treysa die erste dreiwöchige Sommerförderung. „Alles war neu“, erzählt die Vereinsvorsitzende. Ein Elternpaar holte die notwendigen Holzmöbel aus Oberhausen. Auf dem Rückweg sorgte ein Motorbrand für Aufregung, doch alles kam rechtzeitig an. Die Eltern mussten Spenden einwerben und Öffentlichkeitsarbeit machen. Die Konduktoren aus Ungarn brauchten zudem Arbeitsgenehmigungen. „Wir waren am Ende erschöpft, aber es ist alles gut gelaufen“, erinnert sich Barbara Klemm-Röbig.

Als sie 2009 für den Verein den Förderpreis der Plansecur-Stiftung erhielt, mietete der Verein von dem Preisgeld die Wohnung in der Kastenalsgasse. Die Eltern bemühen sich um Spenden, damit sich möglichst alle die Förderung leisten können. Vor kurzem ist es gelungen, eine Leistungsvereinbarung mit dem Sozialamt der Stadt Kassel abzuschließen, wonach die Konduktive Förderung Teil der sozialen Eingliederungshilfe sein kann. Jetzt beraten die Eltern auch andere Eltern, wie sie diese Eingliederungshilfe bekommen können.

Die Eltern haben sich Wissen angeeignet über die Konduktive Förderung, Cerebralparese, Vereinsrecht, Öffentlichkeitsarbeit, Spendeneinwerben, Versorgungsrecht, Sozialrecht, Anträgen und vielem mehr. „Man wächst so nach und nach rein“, sagt Barbara Klemm-Röbig. Ein zeitaufwendiges Engagement. „Am besten zählt man die Stunden nicht.“ Warum die Eltern so viel Zeit investieren? „Weil wir merken, dass diese Fördermethode hilft.“ Sie bringe den Kindern erhebliche Fortschritte. Ärzte hätten gesagt: Das Kind lernt nie laufen. Und dann laufe es doch. Sie erinnert sich daran, wie ein Kind die ersten Schritte in die Arme der Mutter machte. „Das war eine riesige Freude.“

Die Geburt eines Kindes mit einer solch schweren Behinderung ist für die Eltern ein Schock. Sie müssen sich von allem verabschieden, was sie sich für ihr Kind vorgestellt hatten. Betreuung und Pflege sind zeitintensiv und sie müssen um die notwendigen Hilfsmittel kämpfen. Viel Unterstützung finden sie dabei nicht. Umso wichtiger ist der Austausch untereinander. Die regelmäßigen Treffen sind mittlerweile etwas ins Hintertreffen geraten. Denn viele Eltern haben weite Anfahrten.

Elisabeth sitzt mittlerweile auf einer Art Kasten, ihr Rücken lehnt gegen eine Säule. Außerhalb ihres Rollstuhls zu sitzen, ist für das Kind ungewohnt. Sie hat ein Pult vor sich und ein erstes kleines Puzzle zusammengesetzt. Großes Lob von Konduktorin ZsuZsa. „Jetzt hole ich dir ein ganz schwieriges Puzzle.“ Sie legt ein großes Puzzle vor das Mädchen. „Lass uns erst mal sehen, was da alles drauf ist“, schlägt sie Elisabeth vor, die auf diese Art das Sprechen übt.

„Die Übungen werden häufig wiederholt“, erläutert Barbara Klemm-Röbig und die Kinder viel gelobt. Jeder kleine Fortschritt steigert das Selbstvertrauen. Groß ist Elisabeths Freude über Lob und Beifall, als sie das große Puzzle geschafft hat. Etwas später macht sie sich mit Hilfe der Konduktorin und einem Stuhl auf den Weg zur Toilette. Statt einer Lehne hat der Stuhl hinten Sprossen. An einer davon hält sie sich mit ihren Händen fest. Sie stellt einen Fuß mit Hilfe von ZsuZsa auf den Steg, schiebt den Stuhl weiter und bewegt sich sich so vorwärts. Schritt für Schritt ein kleiner Fortschritt.

Ein großer Schritt steht Anfang Juli für den Verein ins Haus. Mit Mitteln der Aktion Mensch wird ein familienunterstützender Dienst mit einer Fachkraft und einer halben Verwaltungsstelle eingerichtet. Die Fachkraft wird eine Konduktorin aus Ungarn sein. Das Angebot kann dadurch erweitert werden, zum Beispiel um Betreuung von betroffenen Kindern und Beratung der Eltern. Auch eine kontinuierliche Förderung ist geplant. Manches müsse sich entwickeln, so wurden gerade die Mitglieder nach ihren Wünschen befragt. Ideen wären beispielsweise, ein Wohntraining oder eine kleine Kochgruppe für die Kinder und Jugendlichen aufzubauen. Barbara Klemm-Röbig wünscht sich auch die Zusammenarbeit mit Institutionen und Organisationen. Das wird hoffentlich gelingen. Schritt für Schritt.

Information zu Konduktiver Förderung
Die Konduktive Förderung wurde vom ungarischen Arzt und Pädagogen András Pető für Kinder und Jugendliche mit cerebralen Bewegungsstörungen und Erwachsene mit MS, Schlaganfall und Parkinson-Syndrom entwickelt. Die ganzheitliche Methode verknüpft den Erwerb motorischer Fähigkeiten mit Tätigkeiten aus dem Alltag und praktischem, intellektuellem und emotionalem Lernen. Ziel ist, eine möglichst eigenständige Teilhabe am Leben zu erreichen, zum Beispiel Sitzen, Stehen, Gehen oder Sprache, Essen, Ankleiden und Hygiene. Die Konduktive Förderung betrachtet eine cerebrale Bewegungsstörung als ein Lernhindernis. Sie behandelt keine Krankheit, sondern hilft beim Lernen. Die Aufgabe der Konduktoren ist es, Hilfestellung zu geben, zu korrigieren und zu motivieren. Auf diese Art sollen gesunde Hirnteile aktiviert werden, um Hirnschädigungen auszugleichen.

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