Die documenta schützen!
1. Die Unterzeichner bekennen sich zu den Prinzipien, die die documenta in den vergangenen Jahrzehnten zur weltweit bedeutendsten Ausstellung moderner Kunst gemacht haben: Völlige Unabhängigkeit von politischem Einfluss, Garantie der künstlerischen Freiheit, Globalität als Ziel und Anspruch.
2. Dieses Bekenntnis gilt auch und gerade in schwierigen Zeiten. Und die documenta fifteen durchlebt in diesen Tagen wahrlich schwierige Wochen.
Die Präsentation der Arbeit „People´s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektives Taring Padi auf dem Friedrichsplatz war ein schwerer Fehler. Antisemitismus hat keinen Platz auf der documenta.
Die Verantwortlichen haben richtig reagiert: Das Bild wurde zunächst verhüllt, dann abgenommen. Ruangrupa, Taring Padi und die Generaldirektorin haben um Entschuldigung gebeten. Es wird überprüft, ob andere antisemitische Kunstwerke gezeigt werden. Durch eine Diskussionsreihe, die in dieser Woche begonnen hat, wird die Problematik öffentlich aufgearbeitet.
Die documenta fifteen wird durch diesen schweren Fehler in ihrer Gesamtheit nicht infiziert. Ein Generalverdacht dieser Art ist nicht gerechtfertigt und unangemessen. Das belegen auch die erfreulichen Besucherzahlen und die durchweg positive Bewertung der Ausstellung durch die Documenta-Gäste. Das Kunstpublikum bildet sich seine Meinung durch eigene Anschauung und nicht auf der Grundlage der Bewertung Dritter. Auch die internationale Presse würdigt die Ausstellung sehr positiv.
3. Wir sind enttäuscht von der Eröffnungsrede des Bundespräsidenten. Wir bewerten die Begründung des Bundeskanzlers für seine Weigerung, die Ausstellung zu besuchen, als pauschale Vorverurteilung und daher unangemessen. Es wäre zu begrüßen, wenn der Bundeskanzler seine Haltung nochmals überdenkt. Wir laden ihn herzlich zu einem Besuch der documenta fifteen ein.
4. Die Unterzeichner lehnen den sog. 5-Punkte-Plan, den die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth kürzlich vorgelegt hat, als Angriff auf die documenta entschieden ab. Im Kern geht es der Beauftragten um mehr Einfluss des Bundes auf die Entscheidungen der documenta-GmbH. Begründet wird dies u.a. damit, „dass die vor allem lokale Verantwortlichkeit der documenta in einem Missverhältnis zu deren Bedeutung … steht.“ M.a.W.: Kassel ist zu provinziell und muss künftig durch das klügere, weltgewandte Berlin an die Hand genommen werden. Diese Haltung ist Ausdruck kaum zu überbietender Arroganz und übersieht, dass sich die documenta in ihrer über 60jährigen Geschichte in „lokaler Verantwortlichkeit“ zu dem entwickelt hat, was sie heute ist – und das ohne oder nur mit sehr bescheidener finanzieller Unterstützung durch den Bund.
Es ist auch keineswegs so, dass dort, wo sich der Bund entgegen der in der Verfassung verankerten Kulturhoheit der Länder um große Projekte intensiv gekümmert hat, durchweg gute Ergebnisse produziert worden wären.
Die in dem 5-Punkte-Plan offen ausgesprochene Drohung: Ohne mehr Einfluss kein Geld! muss uns nicht schrecken. Die documenta könnte im Zweifel auch ohne die bescheidenen Bundesmittel finanziert werden. Kassel ist darauf nicht angewiesen. Sollte die Beauftragte auf diesem Junktim bestehen, muss die Stadt sie auffordern, die finanzielle Unterstützung umgehend und vollständig einzustellen – und künftig in öffentlicher Funktion zur documenta zu schweigen.
5. Wir würden es sehr begrüßen, wenn der neue Hessische Ministerpräsident, der die documenta fifteen aus seiner Zeit als Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst und zugleich stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der documenta-GmbH gut kennt, seine Kabinettskollegin Angela Dorn darauf hinweist, dass eine Zange Berlin-Wiesbaden, die versucht, Kassel unter Druck zu setzen, nicht im Interesse des Landes liegen kann. Dafür gibt es unabhängig von der documenta zu viele gemeinsam getragene Kultureinrichtungen in Kassel, die auf eine gedeihliche Zusammenarbeit von Stadt und Land angewiesen sind.
6. Die Einberufung einer Expertenkommission, wie sie die beiden Ministerinnen zu Beginn des Jahres gefordert und jetzt erneut thematisiert haben, mit dem Ziel, die Kunstwerke vorab zu bewerten, hätte die Arbeit des Kuratorenteams grundsätzlich infrage gestellt und wäre einer Zensur sehr nahe gekommen. Es war richtig, dieses Ansinnen zurückzuweisen.
7. Wir unterstützen das Kuratorenteam, die Künstlerinnen und Künstler, die Generaldirektorin und alle Mitarbeitenden der documenta fifteen dabei, einen inspirierenden documenta-Sommer zu gestalten, die Ausstellung zu einem insgesamt erfolgreichen Abschluss am 25. September zu führen und bedanken uns für ihren Einsatz und ihr Engagement. Nach dem Ende der documenta fifteen, nicht früher, ist Zeit und Gelegenheit, über evtl. Veränderungen zu sprechen.
Kassel, 29. Juni 2022
Hans Eichel Wolfram Bremeier Bertram Hilgen Christian Geselle
Aufsichtsrat bekräftigt Entscheidung der Generaldirektorin
21.06.2022. Das mit offenkundig antisemitistischen Abbildungen versehene Banner auf dem Friedrichsplatz ist entfernt worden. Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender Christian Geselle hat zum Thema klar Stellung bezogen.
„Ich bin wütend, enttäuscht und verletzt. Als Oberbürgermeister und als Stadt fühlen wir uns durch die antisemitischen Motive beschämt. Es ist ein immenser Schaden für unsere Stadt und die documenta entstanden.
Die deutsche Staatsräson ist deutlich und unmissverständlich. Deutschland hat aus seiner Geschichte heraus eine besondere Verantwortung für alle Menschen jüdischen Glaubens und den Staat Israel. Meine klare Haltung dazu kennt auch die jüdische Gemeinde in Kassel, mit der ich mich auch heute ausgetauscht habe.
Nachdem gestern bekannt wurde, dass antisemitische Darstellungen auf dem Banner auf dem Friedrichsplatz zu sehen sind, muss nun aufgearbeitet werden, wie es dazu kommen konnte.
Trotz ihrer Bekenntnisse ist die künstlerische Leitung der documenta fifteen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, dafür zu sorgen, dass Antisemitismus, Rassismus sowie jede Art von Diskriminierung keinen Raum hat. Deswegen wird jetzt die documenta gGmbH eingreifen. Die Verhüllung des Banners gestern Abend konnte nur ein erster Schritt sein. Mit einem einstimmigen Meinungsbild hat der documenta-Aufsichtsrat bei der heute Vormittag von mir einberufenen Informationsveranstaltung die Haltung der Generaldirektorin bestärkt, das Kunstwerk jetzt entfernen zu lassen.
Ich habe – trotz allem Einsatz für die künstlerische Freiheit – immer gesagt, dass Kunstfreiheit dort ein Ende hat, wo rote Linien überschritten werden. Dies ist jetzt der Fall. Antisemitismus hat auf der documenta und insbesondere in Kassel, hat in unserer Gesellschaft, nichts verloren.
Gleichzeitig möchte ich noch einmal betonen, dass die documenta fifteen nicht unter Generalverdacht gestellt werden darf. So schwer die aktuelle Debatte auf der documenta und der Stadt Kassel und dem Land Hessen lastet, so begreife ich sie auch als unbedingt erforderlichen Beginn eines offenen Dialogs mit den unterschiedlichen Positionen einer globalen Gesellschaft. Ich wünsche mir ein ehrliches, sachliches Podium der kritischen Auseinandersetzung, des offenen Diskurses und des voneinander Lernens.
Als Oberbürgermeister ist es mir besonders wichtig, die Bedeutung der documenta für Kassel, für das Land Hessen, für die Bundesrepublik Deutschland und den gesellschaftlichen Dialog seit mehr als 60 Jahren noch einmal zu betonen.“